Meine Schulfreundin

(Erinnerungen an meine Großmutter)

Ich war zehn- oder elf Jahre alt, da wurde ich von meinem Lehrer ins Lehrerzimmer bestellt. Ich war mir keiner Schuld bewusst und überlegte, was er von mir wolle. Denn, wenn man ins Lehrerzimmer bestellt wurde, war Ärger im Verzug. Nun saß mir Herr Schmidt gegenüber und sagte: „Ich habe bemerkt, dass du ständig mit Rosi zusammen bist. Das Mädchen ist kein guter Umgang für dich. Halte dich von ihr fern.“ Auf meine Frage, warum das so ist, sagte er nur: „Rosis Vater hat die Familie verlassen und lebt mit einer anderen Frau zusammen.“ Verdattert verließ ich den Raum. Was hatte das alles mit unserer Freundschaft zu tun? Ich verstand die Welt nicht mehr.
Sofort erzählte ich den Vorfall meiner Oma. Diese war so empört und erklärte mir, dass Rosi doch nichts dafür kann, wenn ihre Eltern nicht mehr zusammenleben. Am nächsten Tage ging ich in die Schule und setzte mich demonstrativ neben meine Freundin.
Einige Tage später wurde ich wieder ins Lehrerzimmer bestellt. Mein Klassenlehrer nahm mich wieder ins Gebet und sagte: „Du hast doch Freundinnen. Warum gerade Rosi?“ Durch meine Großmutter gestärkt, sagte ich ihm: „Rosi kann doch nichts dafür. Darum bleibt sie meine Freundin.“ Damit war das Thema ein für alle Mal vom Tisch.

© Anneliese Leding-Albani