Schicksal

Sie träumt schon lange, fern vom Glück.
Sie wünscht sich jene Zeit zurück,
als sie mit ihm zusammen war.
Acht Jahre waren sie ein Paar.

Sie teilten Freud, sie teilten Leid,
waren zum Kompromiß bereit.
Wie oft lag sie in seinem Arm,
da war sie sicher, ihr war warm.

Sie liebten sich so manche Nacht,
doch dann ist sie allein erwacht.
Und er war fort
ohne ein Wort.

Sie hatten nicht gestritten,
und sie hat sehr gelitten.
Sie konnte es nicht fassen.
Sie wollte ihn schon hassen.

Bis vier Monate später sein Bruder in der Türe stand
mit einer Urne in der Hand.
Er gab ihr einen raschen Kuss.
"Du solltest nicht sehen, wie er leiden muss."

"Er ist sehr krank gewesen,
den Brief solltest du lesen."
Er gab ihr ein Kuvert
und atmete sehr schwer.

Aus ihren Augen schossen Tränen.
Er wollte in den Arm sie nehmen.
Doch sie sagte leise: "Nein,
bitte lass mich jetzt allein.

Ich tu nichts, was ich muss bereuen.
Die Asche können wir gemeinsam dann im Meer verstreuen.
Er ist mein Leben gewesen.
Ich will den Brief jetzt lesen."

Er nickte und wandte sich zum Gehen.
Er konnte sie seht gut verstehen.
Sie schloss die Tür und öffnete den Brief,
als sie hörte, dass er die Treppe hinunter lief.

Mit zitternder Hand hatte er geschrieben:
"Ich schaffe es nicht. Du solltest einen anderen lieben."
Die Schrift wurde durch ihre Tränen verwischt.
Sie legte sich hin und löschte das Licht.

Sie weinte noch lange, fern vom Glück,
wie sehr wünscht sie sich ihn zurück.
Warum starb er allein, hat sie sich oft gefragt.
Sie hätte ihm so gern Lebwohl gesagt.

Doch die Zeit heilt alle Wunden.
Sie hat ein neues Glück gefunden.
Einen Mann, der ihm sehr ähnlich ist,
und der ihr Schicksal nie vergisst.

Die Asche haben sie im Meer verstreut
und bis heute nichts bereut.

©

Ingrid Hartung