Abendspaziergang

Sie kann sich nicht mehr genau erinnern, wann das Ritual seinen Anfang genommen hatte. Es ist vor vielen Jahren geschehen.

Jeden Abend geht sie seither durch das Gebiet mit den Einfamilienhäusern und den gepflegten Gärten, biegt am Ende in den Feldweg ein, folgt seiner Einsamkeit bis zu dem Wäldchen. Immer geht sie diesen Weg allein. Sie geht ihn bei jedem Wetter, stets um die gleiche Uhrzeit.

Es ist, als erwarteten einige Bewohner in der Siedlung sie bereits. Mit etlichen wechselt sie manchmal ein paar freundlich Wörter, ehe sie weiterzieht. Wo es keine Häuser mehr gibt, weitet sich der Himmel in seine stille Unendlichkeit. Sie geht hinein in das weiche, warme Licht der untergehenden Sonne.

Rund um sie ist eine unsägliche Ruhe. Ihr will scheinen, dass sie sie fassen könne, um sie mitzunehmen. Ganz gleich, wie ihr Tag war, hier streift sie alle Ereignisse wie ein Kleid ab und lässt es fallen. Mit jedem Schritt erlangt ihre Seele mehr Gleichmaß, bis sie im Takt mit dem Streifen des Winds, dem Ziehen der Wolken und dem Wiegen der Gräser zu schwingen beginnt

Nichts ist jetzt mehr wichtig. Nur diese Selbstvergessenheit. Ein Gefühl von endlosem Wohlseins durchströmt sie, füllt ihren Kopf und ihr Herz, schenkt ihr eine Art von Freiheit, für die es keine Worte gibt.

Wenn sie zurückkehrt in den Raum der Menschen, ist ihr Gang wunderbar leicht.

© Jutta Gornik