Das Bild

Eine meiner Tanten ist verstorben. Aus ihrem Nachlass ging ein Bild in meinen Besitz über. Ein Ölgemälde in einem kostbaren Rahmen. Über das Bild weiß in meiner Familie keiner etwas, außer, dass es schon immer im Wohnzimmer der Tante hing, lange bevor es mich gab. Das Bild stellt eine bäuerliche Szene in gedeckten Farben dar. Es muss ziemlich alt sein.

Ich hing das Bild in meinem Wohnzimmer auf. Es zeigte sich sogleich, dass es sich dort nicht recht schicken wollte. Aber da ich meine Tante von klein an liebte, war klar, dass das Bild bleiben würde, wo ich es platziert hatte. Fortan betrachtete ich das Bild häufig und überlegte, wann es wohl zu meiner Tante gekommen war und wie alt es sein mag.

So oft ich das Bild auch ansehe, es gibt seine Geheimnisse nicht preis. Es zeigt unbeirrt den Heuwagen, auf den Menschen in Eile Garben aufladen und im Hintergrund dunkle Wolken eines offensichtlich nahenden Gewitters. Manchmal, wenn Licht auf das Bild fällt, scheint es zum Leben zu erwachen. Dann funkeln die Augen der emsigen Menschen und ich meine, aus der Fernes das Grollen von Donner zu vernehmen.

Unlängst meinte ein Freund, ich solle das Bild doch einmal begutachten und schätzen lassen. Vielleicht sei es viel wert. Für mich ist es viel wert, mehr, als ein materieller Wert jemals erreichen könnte.

© Jutta Gornik