Schneeglöckchen

Die Gardine war zur Seite geschoben. Aus seinem hohen Bett konnte er aus dem Fenster sehen. Direkt auf die vielen Schneeglöckchen, deren zarte, weiße Blüten der Wind wiegte. Es war noch früh im Jahr, doch der Frühling würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Die längeren Tage, die bereits wärmende Sonne und der makellos blaue Himmel verhießen das. Er stellte sich vor, wie der Garten einige Wochen später aussehen würde. Üppig und kräftig grün der Rasen, darüber die Forsythien in leuchtendem Gelb. Bald würden sich die Tulpen auf hohen Stielen in makelloser Schönheit dazugesellen. Ach, und dann der Flieder! Die prächtigen, fülligen Blütenstände in weiß und violett. Und ihr lieblicher Duft!

Er schloss die Augen. Da war es ihm, als ströme dieser Duft in seine Nase, als schlendere er in lauer Luft an den Blumenrabatten entlang Seine Augen tranken die herrlichen Farben und das neue Licht, und seine Brust weitete sich vor Wohlbehagen und in unbeschreiblicher Freude. Eine Träne löste sich aus einem Augenwinkel und lief langsam über seine Wange. Vielleicht würde er in diesem Jahr die Tulpen noch blühen sehen, vielleicht sogar noch den Flieder.

© Jutta Gornik