Wie alt der Mann war, wussten die Nachbarn nicht. Sie wussten überhaupt nichts von ihm. Er bewohnte allein ein kleines Haus, das eingepfercht zwischen zwei größeren Häusern in der Straße stand. An schönen Tag saß er meist auf einem Stuhl vor dem Haus und werkelte irgendetwas. Allen, die an ihm vorbeigingen und grüßten, antwortete er mit einem Kopfnicken. Niemand hatte ihn jemals sprechen hören. Daher glaubten die meisten, er sei stumm. Es verhielt sich aber nicht so, vielmehr hatte der Mann nach einem schweren Schicksalsschlag vor vielen Jahren die Sprachlosigkeit gewählt. Ein paar Häuser weiter wohnte ein kleiner Junge, der noch nicht die Schule besuchte. Er besaß einen hellen Geist und war wissbegierig. Einen Satz trug er oft auf den Lippen: „Was machst du da?“ Damit brachte er nicht nur seine Mutter zur Verzweiflung. Es geschah immer wieder, dass der Knabe sich vor dem Alten aufbaute und seine Standardfrage: „Was machst du da?“ stellte. Der Mann auf dem Stuhl blickte dann gestört von seiner Arbeit auf und schüttelte mit dem Kopf, so wie es Menschen oft tun, wenn sie etwas verneinen oder abwehren wollen. Meist verharrte der Kleine noch eine Weile abwartend, ehe er abzog. Ungezählte Male hatte sich diese Szene bereits abgespielt. Doch eines Tages schüttelte der Alte nicht mit dem Kopf, sondern räumte das Utensil, das er auf einem Hocker neben sich platziert hatte, auf den Boden und klopfte einladend auf die Sitzfläche. Der Junge ließ sich sofort nieder. Der Alte breitete seine begonnene Arbeit auf seinem Schoß so aus, dass der Junge gut sehen konnte, was er tat. Er stichelte in eine Filzsohle am Rand rundherum Löcher. Als er fast fertig war, schob er die Sohle zu dem Jungen hinüber und hielt ihm den Stichel hin. Dann klopfte er mit dem Zeigefinger auf das Teil. Der Junge verstand. Er sollte noch fehlende Löcher in die Sohle stechen. Voller Eifer machte er sich ans Werk. Als er mit Mühe drei zustande gebracht hatte, zeigte der Alte auf sie und danach auf die von ihm fabrizierten. Jetzt sah es der Junge auch! Der Abstand der von ihm gefertigten Löcher war ungleich. Da nahm der Junge mit den Augen sorgfältiger Maß, und der Abstand zwischen den Löchern konnte sich jetzt sehen lassen. Nun ging es an weitere Sohlen. Der Alte kramte aus seinem Werkzeug am Boden einen zweiten Stichel, und dann saßen die beiden über ihre Sohle gebeugt stumm nebeneinander bei der Arbeit. Solange, bis die Glocke der Kirchturmuhr zwölfmal schlug. Da nahm der Mann dem Jungen Stichel und Sohle ab und packte alles zusammen. Es war klar, was das bedeutete: Schluss! Als der Kleine zu dem Alten aufblickte, meinte er in dessen Augen einen hellen Schein zu sehen. „Hast du gut gemacht“, hörte er sagen.
da fällt mir grade der Sinnspruch ein: Wenn mancher Mann wüsste, wer mancher Mann wär', gäb mancher Mann manchem Mann manchmal mehr Ehr. Um über jemanden urteilen zu können, muss man ihn kennen, denke ich. Schöne Geschichte.
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