Aus dem Archiv hervorgeholt, zusammengefasst im Buch "Beule im Blech - Kurzgeschichten"
1970 hatte ich die Trilogie Geschichten mit......
geschrieben.
Geschichten mit dem Vater
Geschichten mit dem Arbeitstag
Geschichten mit der Nacht

…mit dem Vater
Vater ist wütend. Seine Hände zittern, sein Kinn bebt, seine Haare bedecken ungeordnet die hohe faltige Stirn. Ich sehe ihn an, bin Selbst am Zittern, bin selbst am Beben, bin halt ängstlich. Ich spüre die drückende Atmosphäre. Ich bekomme Kopf und Bauchschmerzen. Ich möchte weg von diesem Ort irgendwohin.
Vater steht gebeugt hinter dem Schreibtisch und hält einen Brief in der Hand. Er lässt ihn achtlos fallen und der Brief schwebt, den Schreibtisch leicht berührend, wie ein Blatt im Wind sacht zu Boden. Du hast es gut Blatt, bist fern des Dramas, du liegst auf dem Teppich weich und warm. Ich aber muss hören, muss sehen den Vater, den über alles verehrten Vater. Er ist stark und groß, er spricht klug, er kann und weiß alles. Ich möchte sein wie er, und doch kann ich es nicht, ich resigniere.
Seine Stimme grollt, sie ist herb und tut mir weh. Sprich leise Vater, bitte.
"Deine Schulleistungen sind katastrophal, du wirst sitzen bleiben. Vater und Mutter scheinen dir gleichgültig zu sein. Rücksichtnahme kennst du nicht. Alles haben wir für dich getan und der Dank dafür sind schlechte Noten. Du bist einfach zu faul. Mit dieser Einstellung wirst du es im Leben zu nichts bringen. Was sagst du dazu?"
Ich atme leise, habe Angst laut zu atmen. Sage das nicht Vater, brich bitte nicht den Stab über mich, hilf mir doch und sei lieb.
"Sprich endlich, was sagst du nun dazu?"
Ich kann nicht sprechen, ich kann nicht denken. In meinem Kopf rauscht es. Mein Gehirn ist blockiert. Die feuchten Hände trockne ich mir an der Hose ab. Ich sehe den Vater nur noch verschwommen. Eine Etage unter uns wartet mein Freund auf mich. Er besitzt eine elektrische Eisenbahn, die ist groß und gewaltig. Drei Personenzüge und zwei Güterzüge durchfahren eine Miniaturalpenlandschaft mit hohen Bergen und satten grünen Tälern. Wir haben kleine Dörfer und Städte gebaut, Straßenzüge errichtet, Parkplätze geschaffen Vieh auf die Weiden gestellt und immer wieder neue Schienen verlegt. Mein Freund hat heute ein Schlösschen geschenkt bekommen, das in die Landschaft eingepasst werden muss. Einen Berg dafür haben wir schon vorbereitet. Eine Autostraße führt bis zum Schloss und ich leite verantwortlich den Fahrzeugpark. Es ist schön, wenn meine Hand das kleine Auto nimmt, es auf die neue Straße setzt und langsam den Berg herauffahren lässt. Für einen Augenblick steuere ich durch meine Impulse die kleine Welt. Macht liegt in meiner Hand. Glück und Unglück liegen so nah beieinander, das eine kurze Reaktion von mir, entscheidungshelfend ist.
Jenseits meiner Gedanken dringt leise von Ferne Laute an mein Ohr. “Antworte endlich, Junge“. „Ja Vater, ich…“ antworte ich zaghaft.
Meine Stimme klingt fremd, fast unnatürlich. Ich denke an die Eisenbahn, an meinen Freund, an unser gemeinsames Spiel. Wir löschen das Licht im Spielzimmer, alles ist dunkel. Wir betätigen den Trafo und produzieren Strom. Licht flackert uns entgegen, erst gelblich denn weiß, Hunderte von kleinen Birnen in Häusern, an Ampeln, in Straßenlaternen, in Unterführungen und an Brücken verbreiten durch kleine Lichtkegel ihre gedämpfte Helligkeit. Das Spiel kann beginnen.
Ein Schmerz an der Wange reißt mich aus meinen Gedanken. Vater steht vor mir, die Hand noch ausgestreckt. "Du sollst antworten."
Ich will antworten, doch ich kann nicht. Meine Lippen sind trocken, meine Wange brennt. Vater hat mich geschlagen. Meine Augen sind feucht, nicht weinen, ich versuche die Tränen zurückzuhalten. Schwach sind meine Nerven, sie kommen erst vereinzelt, langsam, dann in Mengen schnell, sie kommen die Tränen, Orgasmus der Seele. Vater zieht seine Hand zurück, nimmt seine Tabakspfeife und geht zur Tür. Er schaut sich noch einmal um und antwortet
„Für heute hast du Stubenarrest."
Es ist aus mein Eisenbahnfreund unter mir, nimm das kleine Auto, setze es auf die Straße und fahre zum Schloss. Wenn du oben angekommen bist, dann denke an mich. Ich würde gerne noch höher hinaus. Über die Wolken steigen, die Sterne fassen, wie gerne würde ich aus jener Höhe eine Beule in die Erde drücken. Das Unfassbare fassbar zu machen wäre für mich die schönste Aufgabe. Freund, deine Gedanken enden beim Schloss. Wie froh wäre ich, wenn meine Gedanken dort enden würden. Ich spüre immer stärker, jetzt fast schon täglich, dass meine Gedanken nicht mehr steuerbar sind. Sie wollen in Dimensionen, die keine Grenzen mehr kennen. An diesem Tag stehe ich abseits, hoffentlich bleibe ich nicht immer hier stehen.

© Bernd Rosarius 1970