Spieglein, Spieglein

Wenn früh ich in den Spiegel seh
sympathisch grüßt das Selbstportrait.
Hinein schaut ein gebeugter Mann
heraus ein Bursche, jung und stramm.

Der jetzt beim frühen Morgengähnen
ohne Falten im Gesicht
mit blendend eigenen, weissen Zähnen
kluge Worte zu mir spricht.

Schau, ich bin dein Ebenbild
sehr viel jünger, voller Kraft,
da du dir manchen Wunsch erfüllt
ist manches Glied erschlafft.

Ich höre wohl der feilen Worte
doch könnt ich wirklich ohne Sünden
Spaß und Freude voll empfinden?
Hergestellt in der Retorte
ohne Macken, Attitüden
Kreatur nur nach Belieben
das Leben hätte wenig Flair
und wer weiß, wer ich dann wär.

Deshalb werd' ich keinesfalls
auf meinen Spiegel hören
schab' mir die Stoppeln weg vom Hals
und lass mich nicht mehr stören.

Ich bin nun einmal wie ich bin
mit Stoppelbart und Doppelkinn
und höre auch mit einem Ohr
das Meer noch ganz gut rauschen
niemals würde ich zuvor
mit meinem Spiegel tauschen.

Für mich, nicht für den Kerl im Bild
im Alter Wesentliches gilt:
Es macht im Körper knack und zisch
doch die Gedanken sind noch frisch.

© Hartmut Otto