Die Sonne steht tief

Es war ein sonniger Tag. Jetzt steht die Sonne tief. Dann ist es auf einmal da, dieses unbeschreiblich milde, weiche Licht. Es legt sich wie ein sanfter Schleier über die Landschaft, über jedes Haus. Wenn ich doch nur malen könnte! Am Himmel zieht ein Flugzeug einen weißen Streifen hinter sich her. Ganz weit, bis der Streifen auseinander zu fließen beginnt. Jetzt kommen die Vögel. Sie kommen jeden Abend nach einem schönen Tag. Immer um diese Zeit.

"Was sind das für Vögel?", fragst du.

Ich weiß es auch nicht. Vielleicht sind es Mauersegler. So schnell können eigentlich nur Mauersegler sein. Sie sind klein und zart und pfeilschnell. Sie kommen in einer Gruppe 20 sind es bestimmt, wenn nicht mehr. Sie veranstalten eine Flugschau der besonderen Art. Sie schwirren miteinander, durcheinander, kreuzen die Bahnen, lassen sich hoch hinauf treiben, stürzen sich in die Tiefe. Sie gleiten haarscharf aneinander vorbei, ohne sich zu berühren. Sie stoßen dabei Schreie aus. Es scheint, als seien sie beflügelt von Freude und der Lust am Leben. Bis zu einer halben Stunde dauert die beeindruckende Darbietung der Luftakrobaten.
Wie auf ein geheimes Kommando verschwinden sie.

Das milde Licht ist noch da. Es bleibt lang und schönt alles bis zur Dämmerung. Wir schauen in den Himmel. Der Kondensstreifen des Fliegers ist nicht mehr da. Ich denke, wie gern ich manchmal auch ein kleiner Vogel wäre, der abends mit seinesgleichen in einem wunderbaren Spiel die Lüfte durcheilt. Und dann denke ich, wie schön es auf unserer Erde ist.

© Jutta Gornik