Der Sonnenstrahl

Dem kleinen Sonnenstrahl war langweilig. „Heute bleiben wir alle daheim“, hatte die Mutter gesagt und verkroch sich mit ihren Strahlenkindern hinter den dicken schwarzen Wolken, die träge und tief über die Erde schaukelten.

Was war heute bloß los? Es war doch Sommerzeit! Da sollten eigentlich alle Sonnenstrahlen fleißig zur Erde unterwegs sein. Die Mutter gab keine Erklärung ab. Sie hatte sich zusammengerollt und schien gemütlich an den Rücken einer Wolke gelehnt zu schlummern. Es war ratsam, sie nicht zu stören. Der kleine Sonnenstrahl, den alle Goldie riefen, betrachtete nachdenklich die breiten Hinterteile der dunklen Wolken und entdeckte dazwischen eine Lücke. Ein blauer Schein war dort zu sehen. Sicherlich ist es ein eingeklemmter, winziger Zipfel vom Schönwetter-Himmelsgewand. Dachte der Kleine. Immer und immer wieder ging sein Blick zu dieser Stelle. Wie gerne würde er da einmal genauer nachschauen! Aber das war gefährlich, denn rissen die Wolken plötzlich auf, könnte ein kleiner Vorwitz wie er ganz schnell Hals über Kopf aus den Wolken purzeln.

Die Neugierde wuchs und wuchs. Schließlich wurde der kleine Sonnenstrahl ihrer nicht mehr Herr. Ganz vorsichtig kroch er an den Rücken der Wolken entlang, um an zu dem Spalt zu gelangen, in dem es so herrlich blau schimmerte. Fast war der Kleine angelangt, da erklang ein heftiges Niesen. Dabei rüttelte und schüttelte sich eine der ganz dicken dunklen Wolken und sofort riss der Spalt weit auf. Da war nichts, woran sich der kleine Sonnenstrahl hätte festhalten können! Er stürzte aus dem grauen Gewölk heraus und begann leuchtend zur Erde zu gleiten. „Mutti, wach auf! Goldie ist abgestürzt“, hörte er seine Geschwister hinter sich in Panik rufen.

Schon war die Mutter zur Stelle und blickte ihrem Kind nach. „Kommt!“, rief sie und sprang entschlossen vom Himmel ab. Alle Kinder folgten ihr. Da schrien die Wolken: „Das ist Sabotage! Nichts wie weg hier!“ Sie beschleunigten sogleich ihr Tempo und waren auch schon verschwunden. Der Himmel wurde mit einem Mal licht und blau. Es war, als sei er mit feinster, blauer Seide bespannt. Und überall tanzten die Sonnenstrahlen.

© Jutta Gornik