Glück auf Zeit 493


Alex erhielt einen Anruf auf seinem Handy. Er wurde gebeten, auf das Polizeirevier zu kommen und Aussage zu erstatten. Es ging um einen gewissen Karl-Heinz Roganski und einen tödlichen Unfall, der sich Freitagnacht auf der Landstraße hinter dem Stausee ereignet hatte und bei dem es drei Tote zu beklagen gab. Kalle hatte als einziger Beteiligter überlebt, lag aber derzeitig noch im Koma.
Alex lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er wusste, dass Kalle an diesem Abend mit seinem Vater und Marika dessen 40. Geburtstag feiern wollte. Daraus schlussfolgerte er, dass Robert und Marika zu den drei Menschen zählten, die den Unfall nicht überlebt hatten. Und Kalle hatte erst kürzlich seine Mutter verloren, und Carmen...
Alex tätigte seine Aussage auf dem Polizeirevier. Er war sich bewusst, nicht viel zur Klärung des Falls beitragen zu können, doch wenigstens sagte man ihm, in welchem Krankenhaus Kalle lag, und sie bewilligten ihm einen Besuch bei seinem Freund, da Kalle unlängst aus dem Koma erwacht war und angegeben hatte, seinen Freund Alex sprechen zu wollen.
Nun stand Alex vor Kalles Bett und sprach ihn leise an, in der Hoffnung, er würde seine Augen öffnen. "Kalle, ich bin's. Man hat mir gesagt, wo ich dich finden kann und was geschehen ist. Es tut mir so leid..."
Kalle sah Alex mit aschgrauen Augen an. "Danke, dass du gekommen bist. Ich kann noch immer nicht fassen, dass die beiden tot sind, aber ich habe den schwachen Trost, dass ich mich mit ihm versöhnt habe, bevor er gestorben ist. Anders als bei meiner Mutter. Ich habe so viele Fehler gemacht, und glaube mir, dafür hat mich das Leben bestraft. Es hat mich nicht losgelassen..."
Alex strich Kalle über das verbundene Gesicht. "Du hast dein Leben noch vor dir. Du wirst einen Weg finden.", sagte er ruhig. Kalle unternahm den Versuch eines Grinsens, doch die Gesichtsmuskeln taten ihm dabei so weh, dass er lediglich die Augenbrauen nach oben zog. "Ja klar, Alex, the show must go on.", sagte er trocken.
"Kalle, wenn ich dir irgendwie helfen kann, lass es mich wissen. Ich werde für dich da sein.", bot Alex an. Kalle suchte nach seiner Hand und umfasste sie. "Danke, danke, Alex, das ist lieb von dir. Wenn du ein Holzkreuz bauen kannst, für die Beiden. Ich möchte es mit dir an der Straße anbringen, wo es passiert ist. Und wenn Petra ein paar Blumen im Garten hat und Kerzenlichter sollten dort auch sein. Und noch was.", Kalle musste husten. Es schmerzte.
Alex wollte seinem Freund Sicherheit geben. "Das ist überhaupt kein Problem, Kalle. Wir werden uns natürlich darum kümmern." Kalle versuchte, sich aufzurichten. "Ich möchte auf keinen Fall, dass Carmen etwas davon erfährt. Ich würde es mir nie verzeihen, dass sie ihre Meinung ändert, nur weil sie Mitleid mit mir hat."
Alex nickte schweigend, als er sah, dass Kalle auf das Kopfkissen zurücksank und die Augen schloss. Er küsste ihn zärtlich auf die Stirn. "Versprochen, Kumpel.", sagte er leise. "Ich komme bald wieder."
Alex warf noch einen wehmütigen Blick auf seinen Freund und verließ das Krankenzimmer mit feuchten Augen.
Bevor er in sein Auto stieg und nach Hause fuhr, setzte er sich auf eine Bank am Springbrunnen vor dem Krankenhaus. Er faltete die Hände und betete für seinen Freund, und das, obwohl er mit Gott eigentlich überhaupt nichts am Hut hatte.

© Ingrid Hartung