Geheime Orte

Tief in meinem Inneren gibt es geheime Orte, die ich besuche, ohne, dass es jemals jemand bemerkt. Dann spaziere ich zum Beispiel auf dem Weg aus uralten, abgetretenen Quadern. Er führt an Gesteinsbrocken entlang, die zu einer langen Schutzmauer aufgetürmt wurden. Über sie hinweg geht mein Blick auf das Meer. An schönen Tagen fächelt es eine erfrischende Brise heran, an stürmischen schickt es grüne, gischtende Wellen, die brüllend gegen die mächtigen Steine anrennen, Sturzbäche darüber gießen und schließlich ermattend auf den Quadern schäumend zischend auslaufen. Weiße Bänke säumen den Weg. Sie sind an vielen Tagen sonnenbeschienen vom Morgen an bis zum Sonnenuntergang. Hier verweile ich ohne Zeitmaß und lasse meine Augen wandern, weit, bis dorthin, wo Meer und Himmel eins werden. In der Ferne dahinter liegt Venedig. Einheimische erzählen, an besonders klaren Tagen seien leuchtend die Kuppeln von San Marco zu sehen. Weiße Boote mit hoch aufragenden Segeln kreuzen auf dem glitzernden Blau des Wassers. Sie gleitend lautlos davon, umrunden die Spitze der Landzunge und entziehen sich dem Blick. An der Spitze wacht ein Leuchtturm, seit Menschengedenken schon. In der Antike wiesen Leuchtfeuer dort den Schiffen den Weg. Wenn der Abend naht, hüllt die sinkende Sonne Wasser und Land in ein unbeschreiblich weiches, goldenes Licht, um kurz danach in einer Symphonie in rot in das Meer einzutauchen. Auf den bizarren, rosig schimmernden Steinen sitzen dann andächtig staunend die Menschen, bewegungslos wie Skulpturen. Die einbrechende Dunkelheit verwandelt sie bald schon in Scherenschnitte. Ich gehe um die Landzunge herum. Frischer Wind empfängt mich, zaust mein Harr und tätschelt meine Wangen. Gegenüber, nur ein Katzensprung weit über das Wasser, schaue ich auf Triest. Wie helle Tupfer leuchten dort erste Lichter auf. Bald danach überziehen Girlanden von Beleuchtung den Hafen und das Häusermeer.

Es Zeit für mich, zurück zu kehren.

© Jutta Gornik