Glück auf Zeit 406


Carmen wusste nicht, mit wem sie wegen ihrer Schuldgefühle Kalle gegenüber reden sollte. Bei Markus brauchte sie nur vage seinen Namen zu erwähnen, und er rastete aus. Petra war der Meinung ihres Mannes, dass es ein Fehler gewesen war, mit Kalle zu einem Zeitpunkt ins Bett zu gehen, an dem für Carmen schon feststand, dass sie zu Markus zurückkehren würde. Zwar ging Petra nicht so weit wie Alex, der ihr harte Vorwürfe gemacht hatte, Kalles Vertrauen mißbraucht zu haben, aber sie zeigte ihrer Schwester deutlich, dass sie kein Verständnis für deren Handlungsweise aufbrachte.
Alex und Petra hatten sie gestern Abend per Telefon in Kenntnis gesetzt, dass Kalle in eine psychiatrische Klinik Nähe des Chiemsees eingewiesen wurde. Sie hatten ihr auch mitgeteilt, dass Kalles Mutter gestorben war. Durch seine Briefe wusste Carmen, dass sie an einem Gehirntumor litt, und das schien ihm sehr weh zu tun. Schließlich hatte er sich vor zwei Jahren eiskalt von ihr abgewandt und fürchtete nun, dass der Ausbruch der Krankheit mit seinem damaligen Verhalten zu tun haben könnte. Wahrscheinlich hatte die Nachricht von ihrem Tod ihn zu einer Kurzschlussreaktion getrieben.
Aber vielleicht war das nicht die einzige Ursache gewesen. Er hatte nicht nur seine Mutter verloren, auch sie selbst hatte sich nach einer hoffnungsvollen Nacht erneut von ihm getrennt. Seit Petras Anruf nagten schwerwiegende Gewissensbisse an ihr, die sie nicht mehr schlafen ließen.
Sie hatte sich dazu entschieden, das Treffen mit Markus am heutigen Abend abzusagen und stattdessen ihre Freundin Andrea aufzusuchen. Sie schien der einzige Mensch zu sein, der mit ihr unvoreingenommen über Kalle sprechen konnte. Sie wählte Markus' Telefonnummer und war froh, als sich nach längerem Klingeln am anderen Ende der Leitung der Anrufbeantworter meldete. Sie entschuldigte sich dafür, dass sie die heutige Verabredung nicht einhalten konnte, weil sie starke Kopfschmerzen hatte und sich hinlegen musste. Und das war nicht einmal gelogen. Sie hatte wirklich das Gefühl, ihr Kopf wollte zerspringen.

© Ingrid Hartung