Glück auf Zeit 133


Kalle traf seinen Vater völlig unerwartet und ausgerechnet im Club an einem Abend, an dem er überhaupt nicht wußte, wo er hingehen sollte, da Alex nach Berlin zu Petra gefahren war, und er alle anderen Kontakte inzwischen abgebrochen hatte. Er schämte sich wegen seines verunstalteten Gesichts, noch immer waren die Spuren jener Nacht erkennbar, als er betrunken in die Baugrube gefallen war. Wahrscheinlich würden auch ein paar Narben zurückbleiben als ewiges Gedenken an das Ende seiner großen Liebe.
Außerdem sagte ihm sein gesunder Verstand, dass ihm gewisse Beziehungen nicht gut taten, sondern ihn früher oder später scheitern lassen würden. Er hatte sehr wohl erkannt, dass Drogen ihm sehr schnell den Todesstoß versetzen konnten. Er war schon zu tief gefallen und froh darüber, dass er wieder in der Lage war, klare Gedanken zu fassen. Außerdem hatte es Alex zur Bedingung gemacht, dass er keine Drogen nahm, wenn er bei ihm wohnen wollte. Er hatte auch von ihm gefordert, und das ziemlich heftig, sich einen Job zu suchen, aber es war ihm bisher nicht gelungen, in dieser Hinsicht irgendwelche Erfolge zu erzielen, und wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, mußte er zugeben, dass seine Bemühungen sich in Grenzen hielten. Er wurde stillschweigend in Alex' Wohnung geduldet, sein Vater zahlte zwar seinen Mietanteil, aber alle weitere Kosten trug Alex. Im Moment herrschte im Kühlschrank gellende Leere.
Alex beschwerte sich nie darüber, dass Kalle ihm sein Bier wegtrank, er wurde nur fuchsteufelswild, wenn er bemerkte, dass Kalle zuviel getrunken hatte. Kalle hatte seinem Freund gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil er wußte, dass er ihm nur Ärger bereitete.
Kalle wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er seinen Vater auf sich zuwanken sah. Kalle hatte zwar schon drei Bier und zwei Whisky zu sich genommen, doch er erkannte klar und deutlich, dass sein Vater weitaus mehr getrunken haben mußte oder viel weniger vertrug. Kalle legte seine rechte Hand auf die breite Schulter seines Vaters. "He, Pa, ich bin's. Checkst du's noch?", fragte er und versuchte zu lächeln, obwohl ihm eigentlich gar nicht danach zumute war. Robert sah ihn mit verschleierten Augen an. "Kalle, du hier..", lallte er. "Ich vermisse dich so.", brachte er mühsam hervor.
Die beiden Männer umarmten einander. Plötzlich befreite sich Kalle aus der Umklammerung seines Vaters. "Wo ist denn Marika eigentlich?", fragte er. Robert schüttelte träge den Kopf. "Ich weiß nicht, wahrscheinlich da, wo sie jeden Abend ist, zu Hause..." Er wandte den Blick ab. Kalle schüttelte seinen Vater bei den Schultern, als wolle er ihn ins Leben zurückholen. "Pa, du Idiot! Spürst du nicht, dass du drauf und dran bist, die Frau deines Lebens zu verlieren." Robert grinste dümmlich. "Ich hab in meinem Leben schon immer alles verloren, was mir wichtig war, da kommt es auf Marika auch nicht mehr an." Er ergriff Kalles Bierglas und leerte es in einem Zug.
"Lass uns noch einen Whisky trinken!", schlug Robert vor. Kalle schüttelte energisch den Kopf. "Du verdammter Schwächling! Du bist genauso hilflos wie ich, aber du hast Marika. Du hast eine Perspektive. Ich werde es nicht zulassen, dass du sie kaputt machst. Du hörst jetzt auf zu trinken. Ich zahle", er verbesserte sich rasch. "Ich lasse auf Alex anschreiben, und dann gehen wir in Alex Wohnung. Er ist in Berlin bei Petra. Wir können uns morgen früh dort ungestört unterhalten. Ich rufe Marika an und sage ihr, dass sie sich keine Sorgen machen muß."
Nach diesen Worten fühlte sich Kalle hervorragend und von dem Druck befreit, der so lange auf ihm gelastet hatte. Er spürte, dass sein Leben weitergehen würde. Er wußte noch nicht wie, aber er wollte wieder leben. Er suchte die Bindung zu den Menschen, die zu seinem Leben gehören sollten, und er fühlte, dass das Leben lebenswert war, wenn man begann, Verantwortung zu tragen. Wenn er das nur schon früher erkannt hätte...

© Ingrid Hartung