Glück auf Zeit 105


Nachdem sie an jenem Abend ihren Kommilitonen Oli aus der Absteige herausgeschmissen hatte, begann Petra, die ganze Angelegenheit ihrer Freundschaftsbekundungen mit anderen Augen zu sehen. Und sie wunderte sich eigentlich nur, wieso sie nicht schon früher darauf gekommen war. In diesem Fall hätte sie sich mämlich schon längst aus dem vermeintlich locker befreundeten Quartett zurückgezogen. Als sich Frank und Caro zurückzogen, um ins Kino zu gehen, hatte sie erkannt, dass die beiden bereits ein Paar waren. Sie wußte nur nicht, wie lange schon. Und es verwunderte sie, dass Caro niemals mit ihr darüber gesprochen hatte, wo sie doch die meisten Abende in der Woche gemeinsam verbrachten und sich jede Menge zu erzählen hatten.
Als Oli ihr gegenüber zudringlich und Alex gegenüber ungerecht und gemein wurde, obwohl er ihn doch gar nicht kannte, hatte sie erkannt, dass sie in ein Komplott verwickelt war. Offensichtlich war es durchaus beabsichtigt gewesen, dass Alex Zeuge ihrer morgendlichen Begrüßung wurde. Schließlich hatte Caro gewußt, dass Alex sie zur Schule fahren würde. Und hatte sie Oli an jenem Morgen nicht auch ein wenig ungestümer als sonst geküßt?
Sie war wütend, dass sie auf diese Intrige hereingefallen war, aber noch mehr erzürnte es sie, dass Caro ein falsches Spiel getrieben hatte. Sie versuchte, sich zu erinnern, was Caro, die Alex ja kannte, über ihn gesagt hatte. Sie hatte sich meist abfällig über ihn geäußert. An einem Abend, als sie schon reichlich Rotwein genossen hatten, meinte Caro: "Ja, im Bett ist er bestimmt eine Kanone, aber bis drei zählen kann er wahrscheinlich nicht. Nimm ihn mit, aber lass ihn schnell wieder fallen und such dir was Intelligenteres." Petra hatte ihre Worte damals nicht ernst genommen, aber jetzt wurde ihr unvermittelt klar, dass sie sehr wohl ernst gemeint waren. Am Ende hatte Caro Oli auf sie angesetzt, weil sie wußte, dass er sie mochte. Schmerzlich erkannte sie, dass Caro ebenso wie ihre Schwester Carmen bereit war, Intrigen zu spinnen, wenn es darum ging, Alex und sie auseinander zu bringen. Aber warum konnten sie ihn nicht leiden? Und es wäre ihr niemals eingefallen, Carmen Kalle auszureden oder Caro zu erklären, dass Frank nicht der richtige Mann für sie war. Wieso glaubten eigentlich immer alle, sich in ihr Leben einmischen zu können, ohne gefragt zu werden?
Und warum meldete sich Alex nicht? Er hatte doch versprochen, sie anzurufen. Stattdessen hatte er sein Handy ausgeschalten. Warum hatte er diesen idiotischen Job in Köln angenommen, wo er doch wieder mutterseelenallein war, was er zutiefst verabscheute. Oder stimmte wirklich etwas mit ihm nicht? Petra war verzweifelt. Sie wußte nicht, wie sie Alex erreichen konnte, und er hatte alles dafür getan. Wollte er sie absichtlich zappeln lassen?
Ihr fiel ein, dass sie seit vorgestern den Briefkasten nicht geleert hatte. Sie schwang sich von der Couch auf, nahm den Briefkastenschlüssel vom Haken und eilte nach unten. Als sie, wieder oben angekommen, die Briefe durchsah, ließ alle achtlos auf den Tisch fallen mit Ausnahme des einen, der den Absender Alexander Kerner, Pension Artenic in Köln trug. Petra warf sich auf die Couch und öffnete den Brief, das erste Lebenszeichen von Alex seit 10 Tagen.

© Ingrid Hartung