Glück auf Zeit 88


Kalle fühlte sich einsam in Alex' Wohnung. Sein Freund fehlte ihm. Es war nicht nur, dass nun niemand da war, der das Essen vorbereitete und am Tag für Ordnung sorgte. Er vermißte auch die abendliche Konversation. Es war unterhaltsamer, gemeinsam mit Alex ein Bier zu trinken und das abendliche Fernsehprogramm auszuwählen oder eben einfach nur zu reden. Wenn Kalle es recht bedachte, war Alex momentan der einzige Mensch, mit dem er reden konnte, der ihm wirklich etwas bedeutete. Natürlich liebte er Carmen immer noch, aber sie war unerreichbar. Sie war vor ihm geflohen, und er wagte nicht zu hoffen, dass sie jemals wieder zu ihm zurückkehren würde.
Bei dem Gedanken an Carmen schämte er sich. Er war froh, dass sie über 500 Kilometer weit von ihm entfernt war und nicht sehen konnte, was er an manchen Abenden trieb. Er hasste sich selbst dafür. Nicht nur, dass er mit fast jedem Mädchen schlief, das sich ihm an den Hals warf, nur um seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Er war auch schön öfter bei Richy und dem Fotografen als Modell für Nacktfotos und das, wie er sich eingestehen mußte nur, um Geld zu bekommen, um sich endlich wieder eine Droge leisten zu können. Inzwischen mußte er sich mindestens zweimal in der Woche Heroin spritzen, um nicht verrückt zu werden. Erst danach fühlte er sich wieder besser. Es war wirksamer als ein Orgasmus.
Sein Verstand sagte ihm, dass er sich selbst zerstörte, aber sein Gefühl ließ ihn im Stich. Zuweilen glaubte er, dass er überhaupt nicht mehr in der Lage war, etwas zu fühlen. Er konnte hassen. Er hasste seinen Vater. Es entfachte in ihm mitunter eine gewisse Begierde. Er begehrte es, mit einem Mädchen zu schlafen. Und seit einiger Zeit kannte er ein triebhaftes Verlangen nach jenem Zustand, in den ihn diese wundersame Droge versetzte. Jetzt, da er sich so seltsam allein gelassen fühlte, fragte er sich, ob er bereits süchtig war.

© Ingrid Hartung