Glück auf Zeit 39

Ein neuer Anfang

Alles kam genauso, wie Petra es vorausgesehen hatte. Carmen erhielt tatsächlich die Stelle als Bibliothekarin in Grafing, für die sie sich beworben hatte. "Wir schätzen es sehr", hatte die Leiterin der Bücherei gesagt, als sie das Vorstellungsgespräch beendete, "wenn Menschen bereit sind, für Ihre Arbeit von Zuhause fortzugehen und ihr ganzes Leben zu verändern?" Die adrette, dunkelhaarige Frau, die auf die Fünfzig zuging, könnte ja nicht ahnen, dass Carmen aus gutem Grund genau das beabsichtigte.
Ihr Vater schien sich ehrlich für sie zu freuen, doch am Verhalten ihrer Mutter spürte sie, dass damit deren letzte Hoffnung, wenigstens eine ihrer Töchter im Haus zu behalten, dahin war. "Mama, bitte sei nicht traurig!", versuchte Carmen, sie zu trösten. "Ich bin doch nicht aus der Welt. Wir werden uns häufig sehen, und ihr könnt jederzeit hier Urlaub machen. Da habt ihr es nicht weit bis in die Berge. Die Mutter nickte stumm. In ihrem Innersten wußte sie, dass Carmen Recht hatte, aber das Gefühl des Schmerzes gewann immer noch die Oberhand gegenüber einer vernünftigen Betrachtung der nahenden Trennung.
"Ich schlage vor, wir gehen jetzt gemeinsam etwas essen, und dann nehmen wir uns die Liste der Wohnungsangebote vor, die uns Frau Bauer mitgegeben hat, denn schließlich muß Carmen auch ein Dach über dem Kopf haben, wenn sie hier arbeitet." Carmen hakte sich bei ihrer Mutter unter, während ihr Vater voranschritt, geradewegs auf den Lockvogel des "Kastenwirts" zu.

© Ingrid Hartung