Glück auf Zeit 38


Alex fühlte zum ersten Mal in seinem Leben bewußt, dass es Menschen gab, denen er wichtig war, die ihn brauchten. Das ließ in ihm ein unbekanntes Glücksgefühl aufkommen, auch wenn dieses einen bitteren Beigeschmack hatte. Er wußte, dass Kalle seine Nähe suchte, weil er wahrscheinlich der einzige Mensch war, der ihn wenigstens annähernd verstehen konnte. Es tat ihm weh, seinen Freund am Boden liegen zu sehen. Kalle konnte die augenblickliche Situation nicht verkraften. Doch Alex fand keinen Weg aus dieser Misere heraus, außer ihm zuzuhören und mit aller Vorsicht, seine Meinung zu äußern, wohl fühlend, dass es zu spät für Kalle war, Carmen zurück zu gewinnen.
Was seine eigene Person betraf, so war ihm klar, dass er sich glücklich schätzen konnte, dass der Kontakt zwischen Petra und ihm nicht ganz abgerissen war. Sie waren gute Freunde geworden trotz seiner Entgleisung nach dem Kinobesuch. Dennoch war er manchmal nahe daran, die Situation zu verfluchen. In einer Woche fuhr Petra für drei Monate zum Praktikum nach Berlin, und ihr standen alle Möglichkeiten offen, während er hier machtlos zurückblieb und alles daran setzen musste, die Facharbeiterprüfung zu bestehen. Die Trennung, deretwegen Petra keine neue Beziehung eingehen wollte, wäre perfekt vollzogen. Sie war frei, und er würde einsam sein. Diesen Gedanken konnte er nicht ertragen. Zuweilen überlegte er, ob er nicht Kalles Rat befolgen und Petra im Sturm erobern sollte. Aber daran war er ja eben schon einmal gescheitert. Er brauchte nicht den Mut auf, mit ihr über die Gefühle, die er für sie hegte, zu sprechen. Er hatte auch Angst davor, etwas über seine Vergangenheit preisgeben zu müssen, und dann würde er sie mit Sicherheit verlieren.
Also versuchte er, sich einzureden, dass der derzeitige Zustand doch mehr war, als er erhoffen durfte. Petra war ihm freundschaftlich gesinnt, sie mochte ihn so wie er war, und all seine intimeren Gefühle für sie würden diese Beziehung wahrscheinlich nur zerstören.

© Ingrid Hartung