Ich fahre Taxe, um vieles zu vergessen

Schon einmal schrieb ich einen Text über einen Taxifahrer, der mir beim Einkaufen immer wieder begegnet.
(>>> da musste ich doch schmunzeln ...)

Auch heute stand er geduldig in einer Schlange von mehreren Droschken und wartete auf Fahrgäste. Als er mich sah, stieg er aus und wünschte mir frohe Feiertage. Ich erwiderte seine Wünsche sehr gerne und nun erzählte er mir wieder etwas aus seinem Leben.

Er habe sein Fahrzeug leider in der Corona-Zeit günstig verkaufen müssen, die wenigen Fahrten reichten damals kaum zum Lebensunterhalt. Nun fahre er nur noch an 2 Tagen in der Woche. "Ein kleines Taschengeld" sei so immer noch drin.

Irgendwie kamen wir auf das Thema Alter und Zipperleins. Er sei ganz zufrieden, "kleine Defekte gehören im Alter dazu. Damit muss man leben". Nun traute ich mich und fragte ihn, wie alt er denn eigentlich sei. Er schmunzelte und antwortete wie aus der Pistole geschossen. "Seit einigen Jahren ist meine Uhr stehen geblieben, seitdem bin ich immer noch 80 Jahre jung."

Ich fragte ihn, warum er mit so vielen Jahren noch immer Taxi fahre und nun kam eine Antwort, die ich nicht verstand und die mich nachdenklich stimmte: "Ich fahre Taxe, um vieles zu vergessen". Ich traute mich nicht nachzufragen, verabschiedete mich herzlich und setzte meinen Einkauf fort.

Doch dieser Satz wollte mir nicht aus dem Kopf gehen. Was musste er vergessen, wenn er Menschen von A nach B transportierte? Bedrückte ihn vielleicht irgendetwas, bei dem ich ihm vielleicht irgendwie behilflich sein konnte?

Nach 20 Minuten passierte ich wieder die Taxenreihe. Der alte Herr in seiner Droschke war nun ganz vorne auf Platz 1, aber kein Fahrgast in Sicht. Nun traute ich mich und fragte ihn nach dem Grund seiner vorher gesprochenen Worte: "Was müssen Sie vergessen, wenn sie Taxe fahren?"

Wieder schmunzelte er mich an und erzählte mir nun von einer Fahrt mit einem Fahrgast zur Fichtenstraße. Obwohl er schon so viele Jahrzehnte mit dem Auto unterwegs sei, wollte ihm in diesem Moment nicht einfallen, wo die Fichtenstraße in Düsseldorf liegt.

Ich verwies auf die Hilfe von Navigationsgeräten, doch er berichtete mir, dass in diesem Taxi so ein Gerät fehle und ein Smartphone besitze er nicht. Dabei zog er sein kleines Nur-Telefon aus der Tasche. Jahrzehnte ist es her, dass ich so ein altes Handy noch in Funktion gesehen habe.

Mit einer Zusatzfrage ("wie heißt doch die Straße, von der die Fichtenstraße abgeht?") war mein Taxifahrer damals sofort wieder im Bild gewesen und chauffierte den Fahrgast sicher an sein Ziel. Und nun wurde mir klar, was er mit dem Satz über das Vergessen meinte und so erläuterte er mir dies auch: "Wissen Sie was? Taxifahren und mich an Straßen zu erinnern ist für mich so wie für andere Sudoku. Nur ein Training, um geistig fit zu bleiben."

Ergänzend erzählte er mir nun, dass er bereits seit 1967 Taxe in Düsseldorf fahre und seit 57 Jahren mit seiner Frau glücklich verheiratet sei. Ich drückte mein Staunen und meine Hochachtung über dieses lange Leben aus - was mochte er nicht alles schon erlebt haben.

Wir verabschiedeten uns erneut herzlich, verbunden mit der Hoffnung, dass wir uns auch im Neuen Jahr gesund wieder sehen werden - und vielleicht fällt ihm dann ja wieder etwas ein, über das wir sprechen können. Ich würde mich freuen!

© Rainer Lüers