Im Hotel an der Oper

Eigentlich wäre sie gerne Balletttänzerin geworden
Aber sie wurde von ihren Eltern unmittelbar nach der Pensionatszeit verheiratet
Ein Generalmajor mit eigener Villa hatte um ihre Hand angehalten.

Man prahlte im Elternhaus mit der gemachten guten Partie
Sie sei nun eine höhere Hausfrau geworden
Es seien schon Gäste aus dem Hochadel bei ihr gesehen worden.

Niemand sah, dass sie Nachmittage lang in der Waschküche Uniformen wusch
Ihr Gemahl war zu sparsam, um eine Wäscherin einzustellen
Sie könne ohnehin ihre einstige Liebe zum Ballett nicht mehr verstehen, so sprach er.

Aber all das lag nun lange Zeit zurück
Das Grab ihres Mannes im Park unterm Ahornbaum wurde von ihr nur selten besucht
Sie hatte Personal für die Arbeiten im Hauswesen eingestellt.

Nun hatte sie sich endlich wieder einmal eine kleine Reise gegönnt
Sie war noch nie zuvor in Moskau gewesen
Nun wollte sie dort einen Ballettabend in der Oper besuchen.

Im Hotel mit Blick auf die Oper hatte sie eine Suite gebucht
Eine Gesellschafterin war mit ihr gereist
Man besuchte die hoteleigene Bücherei.

Darin lernte man einen Kunstmaler aus Heidelberg kennen
Er sei hier, um ein Porträt der Primaballerina zu malen
Man sei aber einmal ein gern gesehener Gast bei einem seiner Atelierfeste.

Wie es denn wäre, Malstunden bei ihm zu nehmen
Ihr Hauspersonal solle etwas höhere künstlerische Bildung erhalten
In der Nacht soll der geizige verstorbene Generalmajor im Hotel gespukt haben.

© Karin Stückl