Vitaler Chef

Herr Janssen, Chef eines riesigen deutschen Unternehmens, macht sich Sorgen um seine immer häufiger auftretenden Allüren. Seit Monaten wird er von einem seltsamen, für ihn unerklärlichen Phänomän geplagt. Mit keiner Menschenseele mag er darüber reden. Es ist ihm peinlich. Um sich aber letztendlich völlige Klarheit über seinen Zustand zu verschaffen, bittet er seinen alten Freund, Professor Dr. Hellweg, zu sich nach Hause. In der Bibliothek wird eine halbe Stunde lang über vergangene Zeiten und über Geschäfte gesprochen, dann kommt die besorgte Frage des Professors: ,,Na, nun mal raus mit der Sprache, mein Lieber, wo drückt der Schuh, was fehlt Dir denn ?"

,,Ach, weisst Du," kommt zögernd, mit gesenktem Blick, leise die Antwort, ,,ich bin jetzt achtundsiebzig Jahre alt, seit über vierzig Jahren verheiratet, habe vier hervorragende Kinder, bin zwischenzeitlich achtfacher Großvater, sitze noch jeden Tag acht Stunden im Büro, treibe sogar noch Sport und jetzt so etwas." Er legt eine kleine Verschnaufpause ein, hebt den Kopf, holt tief Luft, blickt seinem Gegenüber in die Augen und fährt dann leicht kopfschüttelnd fort: ,,Ich kenne mich seit einiger Zeit selbst nicht mehr, ich bin verrückt nach meiner Sekretärin, ständig laufe ich ihr hinterher und ..."

,,Aber, aber, mein Guter," unterbricht der Freund und Doktor, ,,das ist doch nichts Abwegiges, in Deinem Alter ist es doch nur ein Zeichen von ausserordentlicher Potenz und Vitalität, darüber musst Du doch weiss Gott nicht beunruhigt sein. Viele Deiner Altersgenossen wären froh so fit zu sein, sie würden Dich beneiden!"

Der alte Herr Janssen winkt ab: ,,Nein, nein, Du verstehst mich nicht. Ich renne zwar täglich, manchmal stündlich meiner Sekretärin nach, aber wenn ich sie dann endlich gefangen habe, dann, ja dann weiss ich nicht mehr, warum ich ihr überhaupt hinterher gelaufen bin!"

© Horst Rehmann/Vitaler Chef