Spazieren gucken

An schönen Tagen war das Fenster ihres Wohnzimmers geöffnet. Über der Fensterbank lag ein Kissen. Darauf bettete die Frau ihre Arme und ihren Oberkörper. So hatte sie die Straße gut im Blick. Da sich ihre Wohnung im Erdgeschoss befand, konnte sie mit den Vorbeigehenden in ein Gespräch kommen. Eilige waren nur zum Bieten der Tageszeit bereit, andere ließen sich auf einen längeren Plausch ein.

Spazieren gucken nannte die Frau ihre Beschäftigung. Dies verhalf ihr zur Kenntnis um fast alles, was sich in der Nachbarschaft zutrug. Hatte sie jemanden längere Zeit nicht gesehen, erkundigte sie sich bei anderen über dessen Ergehen. Auf diese Weise nahm sie rege am Leben teil.

Wir Kinder sprachen auf unserem Schulweg gerne mit ihr. Sie konnte gut zuhören und schien alle Zeit der Welt für uns zu haben. Mitunter sagte sie plötzlich „Wart mal, mein Liebchen“ und verschwand im Inneren der Wohnung. Zurück kam sie mit einem Apfel oder Bonbon. Allein aus diesem Grund verweilten wir gerne vor ihrem Fenster.

Eines Tages jedoch war das Kissen von der Fensterbank verschwunden. Und auch die Frau.
Sie sei leider weggezogen, sagten uns die Erwachsenen.
Es war ein endgültiger Fortzug.

© Jutta Gornik