Der Liebesbrief im Speisewagen

Der Sommer war vorüber
Die Bäume wurden allmählich bunt
Sie reiste alleine im Speisewagen

Die Reise nach Sylt hatte sie beim Preisausschreiben gewonnen
Noch nie war sie vorher in Urlaub gewesen
Man hatte sie zur Sparsamkeit erzogen

Zögerlich griff sie nach der Speisekarte
Wie gerne aß sie doch Krabbensalat
Aber sie dachte an ihr Sparschwein

Die Landschaft vor dem Fenster flog vorbei
Wie schwarze Punkte erschienen die Raben auf den Stoppelfeldern
Der Kellner brachte eine Erbsensuppe

Ihr gegenüber saß ein Herr in grauem Anzug
Er las in einem Sherlock-Holmes-Kriminalroman
Vor ihm dampfte ein Glas Tee mit Rum

Gerade würde er eine Gänsehaut bekommen
Er läse gerade von einem Leichenfund im Nebel
Bei der Toten sei ein Liebesbrief gefunden worden

Er wäre gerne Detektiv geworden
Aber er sei ein Graf
Man habe ihn zum Kellermeister gemacht

Er müsse sich noch frisch machen, sagte er, als er ging
Aber er kam nicht wieder
Der Kellner überbrachte ihr einen Liebesbrief von ihm, er sei ein Geist gewesen

© Karin Stückl