Traumreise

(Eine kleine, wahre Geschichte)

Ein aufgeweckter Junge, eben erst sechs geworden, darf ein Mal in der Woche bei seinen Großeltern übernachten. Beim Zu-Bett-gehen ist irgendwann folgender Dialog zwischen ihm und seinem Opa zur Gewohnheit geworden:

Opa: „Gute Nacht, mein Freund, schlaf gut und träum was Schönes!“
Enkel: „Gute Nacht, Opa, träum du auch was Schönes."
Opa: „Vielleicht treffen wir uns heute Nacht im Traum?“

Einmal antwortete der Junge: „Warte Opa, ich schreib es dir auf!“ Er flitzte aus dem Zimmer, holte einen Zettel und schrieb mit großen Buchstaben die Adresse seiner Mama und 02:00 als Zeitangabe darauf. „Sei aber pünktlich, Opa.“ Am nächsten Morgen mussten der Junge und sein Opa sich eingestehen, dass jeder zu müde war, um irgendwohin zu träumen. Die Woche verging und der Enkel ist wieder bei seinen Großeltern. Die Fantasie beflügelt den Jungen und seinen Opa, und so wird der abendliche Dialog fortgesetzt.

Opa: „Gute Nacht, schlaf gut und träum was Schönes!“ Und wieder holt sich der Junge einen Zettel und malt eine Wegskizze mit zwei Standorten, die dreihundert Kilometer voneinander entfernt sind. Enkel: „Da war ich mit Mama mal im Urlaub. Wir treffen uns dort um 4:30.“ Mit den Worten „Schlaf gut und träum was Schönes“ winkt er seinem Opa noch einmal zu und geht mit der Oma in sein Schlafzimmer. Später geht auch der Opa zu Bett und mit einem warmen Gefühl im Herzen legt er den Zettel mit der Skizze auf seinen Nachttisch. Er schließt die Augen und macht sich auf den weiten Weg. Vielleicht trifft er seinen Enkel.
Vielleicht. Wer weiß?

© Roland Rothfuß