Konträre Wege

Jahrelang hatten sich zwei Schulfreunde aus den Augen verloren. Durch Zufall, bei einem Spaziergang am Fluss, sehen sie sich wieder. Der eine gepflegt und elegant gekleidet, der andere unrasiert und zerlumpt.

"Was machst Du denn so ?" Fragt der Heruntergekommene den fein herausgeputzten Freund. "Ach, Du kennst mich ja, ich bin noch immer so wie früher, strebsam, fleissig und immer ein Ziel vor Augen. Momentan bin ich Abteilungsleiter in einer Bank, habe eine kleine Wohnung und ein Auto, beides auf Kredit gekauft, aber bald wird mir beides gehören. - Und Du, was machst Du?" "Ich bin immer noch so faul wie früher, ich besitze garnichts - ich trinke!" ---

Fünf Jahre vergehen. Wie der Zufall es will, treffen sich die beiden Männer wieder und es kommt zum fast gleichen Dialog wie damals. "Was machst Du denn heute?", fragt der zwischenzeitlich Verwahrloste den Anderen. Die Antwort kam so, wie man sie von einem Streber erwartet. "Ich bin heute Bankdirektor, habe ein schönes grosses Auto, ein Häuschen am Stadtrand und bin seit einiger Zeit glücklicher Vater. - Und Du, hast Du immer noch keine Lust zu arbeiten?" "Nein, nein, vom arbeiten halte ich immer noch nichts, - ich bin Landstreicher und trinke", erwiderte dieser gelassen.

Wieder gehen fünf Jahre ins Land und wie vorprogrammiert, treffen sich diese beiden, total konträren Personen, wieder - und wieder fast das gleiche Wortspiel. Der Streber prahlt: "Ich bin vorsitzender Bankpräsident geworden, besitze eine Villa im Park, habe Bedienstete im Haus und einen eigenen Gärtner! - Und Du ?" "Wie eh und jeh, ich trinke!"

So verstrichen wiederum drei Jahre. Der Bankpräsident traut seinen Augen kaum. Auf einem Parkplatz, vor einer Pferderennarena sieht er seinen alten Freund, den "Ex-Landstreicher" geschniegelt und gebügelt aus einem dicken Mercedes steigen. "Das ist ja unglaublich, mein Freund! Wie hast Du denn das geschafft ?" Ruhig und gelassen, wie schon zu damaliger Zeit, kam die Antwort: "Ich habe mein gesamtes Leergut, Flaschen und Dosen, zurückgebracht !"

© Horst Rehmann