Widerspruch

Bertolt war auf dem Weg zum überirdischen Verwaltungsamt. In der Brusttasche seiner Jacke steckte ein Schreiben, das er vor wenigen Tagen erhalten hatte. Darin hieße es, er habe lange genug auf der Erde geweilt und werde daher demnächst zur Abreise in die Anderswelt abgeholt. Auf der letzten Seite befand sich eine Rechtsbelehrung, die wissen ließ, dass gegen diesen Bescheid innerhalb von 14 Tagen Widerspruch eingelegt werden könne. Von dieser Möglichkeit wollte Bertolt heute Gebrauch machen. Im Amtsgebäude ging es lebhaft zu, nicht verwunderlich am ersten Arbeitstag einer neuen Woche. Der alte Mann fragte sich zu der für sein Anliegen zuständigen Stelle durch, zog im Wartebereich aus einem kleine Automaten eine Nummer. Dann gesellte er sich zu den Wartenden. Es ging bereits auf Mittag zu, als Bertolt endlich die Amtsstube betreten durfte. Hinter einem großen Monitor saß an einem Schreibtisch eine bildhübsche, junge Person. Ein himmlisches Wesen, dachte der Mann, während er das Schreiben hervorzog. Die Schöne lächelte wohlwollend. „Ich werde aufgefordert, in die Anderswelt zu reisen“, erklärte Bertolt mit fester Stimme. „Ich möchte nicht reisen.„Ich will dem Bescheid widersprechen.“

„Welches sind Ihre Gründe?“ Mir fehlen mehr als drei meiner Lebensjahre im Kindesalter wegen einer schweren Erkrankung. Mir fehlen sieben Jahre wegen Kriegsdienst und Gefangenschaft. Mir fehlen mehrere Jahre wegen Zwangsarbeit...“ „Halt!“, rief die junge Frau. „Geben Sie alle Ihnen Ihrer Meinung nach verlustig gegangenen Lebensjahre der Reihe nach an. Ich werde das protokollieren.“ Bertolt begann langsam und deutlich aufzuzählen. Die Finger der Schönen flitzten über die Tastatur. Als der alte Mann geendet hatte, vergewisserte sich die sanfte Stimme. „Ist das alles?“ „Ja“, sagte Bertolt mit fester Stimme und nickte bestätigend dazu. Sogleich nahm ein Drucker surrend seine Arbeit auf, und kurz darauf lagen zwei Ausdruckseiten vor dem Mann. „Bitte unterschreiben Sie. Ihr Fall wird geprüft. Sie erhalten dann schriftlich Nachricht.“ „Wie lange dauert das?“ „Maximal 14 Tage.“ Mit einem Händedruck und einem Lächeln entließ die Sachbearbeiterin den Alten. Es dauerte nicht einmal sieben Tage, da lag ein Antwortbrief im Bertolts Postkasten.

„Geschätzter Erdmensch Bertolt“, stand da zu lesen und dann war aufgelistet, welche Gründe Bertolt für eine Verlängerung seiner Daseinszeit auf Erden angegeben hatte. Es wurde sodann auf eine lange Reihe von einschlägigen Paragraphen verwiesen. Der alte Mann überflog das nur und wandte sich erwartungsvoll dem Schluss des Schreibens zu. „Trotz Ihrer bedauerlichen Lebenseinschränkungen stand Ihnen dennoch ausreichend Zeit zur Lebenserfüllung in guter Qualität zur Verfügung. Ihrem Widerspruch ist daher nicht stattzugeben. Ein Termin für Ihre Abreise in die Anderswelt wurde bereits festgelegt, kann aus Gründen des überirdischen Datenschutzes jedoch nicht bekanntgegeben werden.

Mit erdfernen Grüßen....

© Jutta Gornik