Marie und Florian

„Pass gut auf!“, sagt die Mutter und verschwindet in der Bäckerei. Marie hält mit ihren kleinen Händen die Lenkstange des Kinderwagens fest umklammert. In dem Wagen liegt Florian. Er ist erst wenige Wochen auf der Welt. Gut verpackt ruht er in Kissen. Sein Gesicht ist so winzig, dass es darin verschwindet. Marie heftet ihre Augen sinnend auf den schlafenden Bruder. Sie weiß noch nicht recht, ob sie das Bündel, das nachts mit seinem Geschrei die Familie auf Trab hält, so richtig lieb hat.
Bis vor kurzem war es daheim ganz anders. Sie war die Prinzessin, um die es sich drehte. Dann veränderte sich mit einem Schlag alles. Die Mutter hatte nun weniger Zeit für Marie. Fast jeder ihrer Sätze begann mit F wie Florian. Auch der Vater fand nur noch hin und wieder Gelegenheit, um mit seiner kleinen Tochter zu tollen und zu spielen.

Melanie, Maries beste Freundin, hat versichert, das ganze Theater um das Baby lege sich nach einiger Zeit von selbst. Melanie muss es wissen, denn sie hat zwei jüngere Geschwister. Marie seufzt und schaut auf Florian. Er schläft. Ganz friedlich. Er sieht aus wie ein Engel. Marie kann sich nicht vorstellen, dass aus diesem pausbäckigen Wicht einmal ein zänkischer Bruder werden könnte, von der Sorte, wie Melanie gleich zwei hat. Ein Nachbarin kommt heran, bleibt stehen. Sie beugt sich über den Kinderwagen. „Da hast du aber einen süßen, kleinen Bruder bekommen!“, sagt sie lächelnd und streicht Marie über den Kopf.„Du bist bestimmt sehr stolz auf ihn“, fährt sie fort. Marie nickt.

Vielleicht wird sie später zusammen mit Florian Spaß haben, denkt Marie. Sie schaut wieder auf den schlafenden Bruder. Dabei wird es weich und warm in ihrer Brust. Marie beginnt behutsam, den Kinderwagen zu schaukeln. Sie weiß, Florian mag das.

© Jutta Gornik