Das neue Jahr

Das neue Jahr saß auf seinem golden Thron und nahm die Ovation der Hofschranzen huldreich entgegen. Über ihm sprühte ein prachtvolles Feuerwerk.
Es klopfte an die große Eingangstür.
„Wer wagt es, mich jetzt zu stören?“, donnerte das neue Jahr. Schon wurden behutsam die beiden mächtigen Türflügel aufgeschoben und zwei Lakaien buckelten in den Raum. Dahinter schlurfte, auf einen Stock gestützt, ein runzeliger Alter. Vor dem Thron blieb er ungebeugt stehen und schaute dem neuen Jahr ohne Furcht ins Auge.
„Alter,“ herrschte das neue Jahr den Mann an, „wer gewährte dir Einlass und was ist dein Begehren?“
„Ich bin das alte Jahr und wollte von dir Abschied nehmen. Auch wollte ich dir in aller Bescheidenheit heilsame Ratschläge für deine Regentschaft erteilen.“
Da schoss Jähzorn aus den Augen des neuen Jahres. „Weiche, Alter, deine Zeit ist um! Ich werde mein Zepter schwingen, wie es mir beliebt.“ Dann ließ es den Alten ins Jenseits befördern. Und alle Untertanen jubelten dem hoffärtigen neuen Jahr blindlings zu.

© Jutta Gornik