Glück auf Zeit 496


Kalle versuchte darüber nachzudenken, wieviel Glück im Unglück er doch hatte. Und das war eine Menge. Alex hatte ihm zugesichert, sich um alle Belange zu kümmern und das würde er mit Sicherheit auch tun. Allerdings hatte er das vage Gefühl, dass Alex selbst momentan neben den Schuhen stand. Sein Freund hatte in letzter Zeit zwar einige Kilo zugelegt, was eigentlich ein gutes Zeichen sein sollte, aber er wirkte verunsichert und gab ständig zum Besten, dass Petra alles auf die Reihe bringen würde.
Kalle war auch nicht entgangen, dass Alex' Atem häufig nach Whisky roch, wenn er ihn besuchte. Er befürchtete, dass Alex ernsthaft zu trinken begonnen hatte. Das würde auch erklären, weshalb er jede Verantwortung auf Petra schob.
Obwohl Alex stets versuchte, die Fassung zu wahren, war Kalle aufgefallen, dass seine Hände zuweilen zitterten, seine Augen waren rotgeädert und unter ihnen zeichneten sich dunkle Ränder ab. Sein Gesicht war aufgedunsen. Alex sah krank aus. Das tat Kalle weh, und er hoffte, dass er nicht die Ursache dafür war. Alex' tiefes Mitgefühl war echt, das wusste er. Deshalb war er wahrscheinlich auch so eifrig dabei zu versichern, dass bei ihm alles in Ordnung sei.
Kalle wusste inzwischen, dass er physisch bis auf ein paar Narben wieder gesund werden würde. Das hatte er Alex auch gesagt, doch der nickte nur gedankenverloren und meinte. "Aber deine Seele? Wird sie je wieder zur Ruhe kommen?"
Kalle vermied es, Alex zu fragen, ob er Petra endlich über seine wahre Herkunft aufgeklärt hatte. An Alex Verhalten spürte er deutlich, dass er dies umgangen hatte. Dabei, und dessen war er sicher, wäre es für Petra besser, sie wusste, woran sie war. Sie hätte Verständnis für Alex' Ängste.
Im Gegenzug hatte er Alex gegenüber auch nicht erwähnt, welche Gewissensbisse ihn plagten, weil sein Vater und er Marika auf der Heimfahrt das Steuer überlassen hatten. Beide wussten sehr genau, dass sie große Probleme hatte, im Dunklen Auto zu fahren. Und wenn sich Kalle bereit erklärt hätte, die Rückfahrt zu übernehmen, wäre dieser schreckliche Unfall bestimmt nicht passiert.
Kalle hoffte auf eine baldige physische Genesung, damit er seinem gewohnten Umfeld den Rücken zeigen konnte. Um zu vergessen, was geschehen war, wollte er soweit fort als möglich.
Er vergaß, dass er diesen Versuch schon einmal unternommen hatte und kläglich gescheitert war.
Außerdem quälte ihn der Gedanke, dass er nicht fähig war, auch nur eine Träne über den Tod seines Vaters und den von Marika zu vergießen.

© Ingrid Hartung