Glück auf Zeit 272


Markus fuhr nicht erst nach Hause, um sein Gepäck auszuladen. Er war knapp dran, obwohl er viel zu schnell gefahren war. Er steuerte die Bücherei direkt an. Es war kurz nach 19 Uhr. Die Autorenlesung würde erst 20 Uhr beginnen, doch er wußte, dass Carmen in der Bibliothek geblieben war, um die Veranstaltung vorzubereiten. Vielleicht hatte er doch noch eine Chance, sie vorher unter vier Augen zu sprechen.
Er parkte sein Auto. Ihm fiel auf, dass er noch seine Skisachen trug. Damit würde er sich lächerlich machen. Er holte seine Reisetasche aus dem Kofferraum und suchte nach seiner Jeans. Als er sie gefunden hatte, streifte er die Skihose ab und zog die Jeans an. Er konnte von Glück reden, dass es bereits dunkel war und keiner ihn beobachten konnte. Was er tat, war idiotisch. Doch er mußte sich eingestehen, dass es ihm gut dabei ging. Er konnte es kaum erwarten, Carmen zu sehen, sie zu berühren und letztendlich mit ihr zu schlafen.
Er schaltete das Licht ein und betrachtete sich im Rückspiegel. Er fand, dass er ganz gut aussah, erholt und braun gebrannt.
Er stieg aus dem BMW aus, schloss ihn ab und eilte in die Bücherei. Im Foyer auf den Barhockern saßen ein Mann und eine Frau, oder war es ein Mädchen. Auf jeden Fall war es Carmen. Sie schob gerade ein paar Chips in den Mund und nippte an ihrem Sektglas. Dann beugte sich der Mann zu ihr herüber. Er nahm ihre Hand, führte sie an seinen Mund und küsste sie. "Carmen, Sie sind der bezauberndste Mensch, den ich je kennengelernt habe."
Markus stand wie versteinert da. Er sah Carmen lächeln, und das genügte ihm. Er kam sich überflüssig vor. Dieser ekelhafte Typ war noch älter als er, er war dick, beinahe fett. Er war in seinen Augen widerlich mit seinem angeklatschten, fettigen Haar. Doch Carmen lächelte diesem Ungeheuer zu. Er konnte es nicht fassen.
Er spürte, dass Carmen seinen Blick auffing. Sie erschrak. Sie hatte offensichtlich nicht damit gerechnet, dass er so früh auftauchen würde. Hegte sie vielleicht einen Verdachts? Ahnte sie, dass er sich diese Auszeit nicht allein gegönnt hatte?
Carmen ging auf ihn zu. Ihr Blick flehte ihn an, sie in die Arme zu nehmen. Markus umarmte sie herzlich. "Ich bin so froh, dass du da bist.", hauchte sie. "Und ich bin so froh darüber, dass wir wieder zusammen sind. So schön es im Stubaital auch war. Ich habe mich so einsam gefühlt. Und dann konnte ich dich einfach nicht erreichen."
Sie lächelte schuldbewußt. "Markus, ich hatte wirklich viel zu tun. Aber morgen werden wir zwei uns einen schönen Tag machen. Jetzt wird mein Einsatz gefordert. Ich weiß nicht, wenn du bleiben willst..." Sie sah ihn durchdringend an. Er lächelte verführerisch. "Wenn du mir versprichst, dass du anschließend nur für mich Zeit hast.", forderte er. "Ich werde sofort nach der Veranstaltung mit dir aufbrechen.", versprach sie feierlich.

© Ingrid Hartung