Glück auf Zeit 193


Als Kalle am Neujahrstag gegen 10 Uhr nach Hause kam, saß sein Vater gerade am Frühstückstisch. Er hatte auch für Kalle eingedeckt, wie dieser befriedigt feststellte. "Wo kommst du denn jetzt her?", fragte Robert verwundert. "Ich war noch mal schnell auf einem Neujahrsfick.", antwortete Kalle gelassen, als er seine Jacke auszog. "Kalle!", rief sein Vater entsetzt. "Du hast mich etwas gefragt, und ich habe wahrheitsgetreu geantwortet." Kalle nahm auf einem Stuhl Platz und goss sich einen Kaffee ein. "Ich fasse es einfach nicht!", entfuhr es Robert. "Was ist schon dabei. Schließlich bin ich dein Sohn!", erwiderte Kalle schmunzelnd. Robert schüttelte fassungslos den Kopf.
"Ich habe wenigstens für das neue Jahr einige gute Vorsätze. Aber du willst einfach so weitermachen wie bisher. Jedenfalls scheint es mir so. Kalle, wann willst du eigentlich wieder ein normales, anständiges Leben führen? Kannst du sie wirklich nicht vergessen? Willst du ihr ewig nachtrauern?" Robert hatte absichtlich vermieden, Carmens Namen auszusprechen.
"Ich glaube, ich werde nie über sie hinwegkommen.", sagte Kalle gedankenverloren, nicht ahnend, dass sein Freund Alex in der Silvesternacht Carmen gegenüber dieselben Worte geäußert hatte.
Sein Vater stellte die Kaffeetasse ab. "Das ist Unsinn, Kalle. Du bist viel zu jung, und schließlich lebt sie auch ihr Leben ohne dich. Anscheinend ist sie sehr wohl darüber hinweggekommen."
Kalle warf sein Messer, mit dem er gerade Butter auf das Brötchen geschmiert hatte, auf den Tisch. Er wurde wütend. Warum hörte sein Vater nicht auf, sich über dieses Thema auszulassen? Spürte er nicht, dass er ihm weh tat? Er verletzte seine Gefühle, aber vielleicht beabsichtigte er das sogar.
"Du nervst!", fuhr Kalle seinen Vater genervt an. "Merkst du denn nicht? Lass mich endlich in Ruhe und kümmre dich um deinen Scheiß!" Robert entdeckte eine starre Feindseligkeit in dem Blick seines Sohnes. Dabei meinte er es doch nur gut mit ihm. Aber Kalle war schon immer stur und uneinsichtig gewesen. Er war eben tatsächlich sein Sohn.

© Ingrid Hartung