Glück auf Zeit 75


Alex bestand die Gesellenprüfung und das sogar mit einem überraschend guten Ergebnis. Allerdings wurde seine Freude darüber jäh getrübt, als er nur wenige Tage später zu seinem Chef gerufen wurde, der ihm die Kündigung überreichte. Angeblich wurde ihm wegen mangelnder Auftragslage gekündigt, aber Alex wußte genau, dass er als Geselle für die Firma zu teuer war. Außerdem hatte er sich in der Firmenleitung unbeliebt gemacht, weil er sich so bedingungslos für Kalle eingesetzt hatte. Doch die Ironie des Schicksals hatte einmal mehr zugeschlagen. Kalle konnte seine Lehre fortführen, und er stand auf der Straße.
Alex war enttäuscht und wütend zugleich. In Zukunft würde er vorerst mit weniger Geld auskommen müssen anstatt, wie er gehofft hatte, mehr zu verdienen.
Am Abend beschloß er, in den Club zu gehen, und sich vorsätzlich zu betrinken. Das hatte er lange nicht mehr getan. Im Club traf er Kalle. Er saß an der Bar vor einem halbleeren Bierglas, und Andy, der Barkeeper, reichte ihm gerade ein Whiskyglas. "Das Gleiche und ein Bier für mich, bitte!", bestellte Alex, wobei er seinem Freund auf die Schulter klopfte. "Hallo Kalle, was macht die Schule?" Kalle schien über Alex' Auftauchen erfreut zu sein. Er wußte noch nichts von der Kündigung, da er momentan drei Wochen Berufsschule hatte. "Na ja, ich war zumindest meistens dort." Alex musterte seinen Freund. Sie hatten sich längere Zeit nicht gesehen. "Du hast abgenommen, Kalle. Du siehst schlecht aus.", sagte er besorgt. Kalle grinste und nahm einen Zug von seiner Zigarette. "Du nicht, Alex. Du siehst blendend aus." Alex nahm seine Getränke in Empfang. "Mir geht es ja auch ganz gut, obwohl ich heute meine Kündigung erhalten habe." "Was?", rief Kalle erschrocken. "Sie haben dich gefeuert? Oh Scheiße, und das nachdem du die Prüfung gemacht hast?" Alex nahm einen großen Schluck Bier. "Na ja, eben deshalb. Sie müssen mir als Geselle mehr zahlen. Gekündigt wurde mir natürlich wegen der schlechten Auftragslage, die ja gar nicht so mies ist wie du weißt. Ich hätte dem Reimann eine ins Gesicht hauen können, als er anfing, dass es ihm sehr leid täte, aber es gäbe nun mal keinen anderen Ausweg. Dieser Schleimer hat doch nur einen Grund gesucht, um mich loszuwerden." Kalle hob sein Whiskyglas. "Auf einen neuen Job!", sagte er. Sie stießen miteinander an. "Weiß es Petra schon?", fragte Kalle ernst. Alex schüttelte den Kopf. "Ich werde es ihr vorläufig auch nicht sagen. Vielleicht finde ich ja schnell einen neuen Job." Kalle faßte Alex am Arm. Hör auf mit dem Unsinn! Du mußt es ihr sagen. Die Wahrheit kommt immer ans Licht. Das hast du doch bei mir gesehen." Alex sah stur geradeaus. "Kalle, Petra ist in Berlin. Wie sollte sie es denn erfahren? Ich will vor ihr nicht als totaler Versager dastehen." Kalle wurde für seine Verhältnisse ungeheuer energisch. "Alex, du bist kein Versager. Du hast die Prüfung mit Bravour bestanden. Die Kündigung ist doch nicht dir zuzuschreiben. Du solltest lieber ehrlich zu ihr sein!" Alex trank sein Bierglas aus und bestellte zwei neue Bier und zwei Whisky.

© Ingrid Hartung