Glück auf Zeit 32

Verletzende Pfeile

Kalle lag in seinem Zimmer auf der Couch, rauchte eine Zigarette, hing seinen Gedanken nach und hörte die neue CD von ACDC so laut, dass er erst beim dritten Mal hörte, dass jemand an die Tür klopfte. Er schraubte sich von der Couch hoch und öffnete. Er hatte einen Kumpel erwartet und staunte nicht schlecht, als Marika, ziemlich bleich aussehend, vor ihm stand. "Kalle", sagte sie zaghaft, "Kann ich mit dir reden?" Er lächelte selbstgefällig. "Natürlich, warum nicht?"
Er folgte ihr ins Wohnzimmer. Er zündete sich die nächste Zigarette an und nahm eine halbvolle Whiskyflasche und zwei Gläser aus der Schrankwand. "Magst du auch?", fragte er sie dreist. Sie schüttelte den Kopf. Ihm war klar, dass er die höher prozentigen Getränke nur mit der Einwilligung von Robert oder Marika aus der Bar nehmen durfte, aber schließlich hatte sie ihn zu einem Gespräch aufgefordert. Er goss sich ein Glas Whisky ein und lächelte sie an. "Was gibt es denn so Wichtiges?" Marika trat ans Fenster, um zu vermeiden, dass er die Tränen in ihren Augen sah.
"Ich war bei Carmen im Krankenhaus.", begann sie vorsichtig. Kalle schoss von seinem Stuhl hoch und trank den Whisky in einem Zug leer. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass Marika Carmen ohne Ankündigung im Krankenhaus besuchen würde. "Was hast du, um Gottes Willen, dort zu suchen? Das geht dich doch gar nichts an!" Er umfasste Marikas Schultern, aber ihm war nicht wohl in seiner Haut. Marika befreite sich aus seiner Umklammerung. "Kalle, Carmen hat mir erzählt, du bist ihr untreu gewesen, und du hättest ihr vorgeworfen, das Kind absichtlich verlorenzu haben. Sie ist total am Boden zerstört. Ist das war, was sie gesagt hat?" Kalle blies den Rauch seiner Zigarette genüßlich aus. "Ja, kann schon sein. Nobody is perfect!" Marika sah ihn zornig an. "Sag mal, Kalle, was bist du nur für ein rücksichtsloser Mensch?"
Kalle trank das Glas Whisky aus, das er sich soeben erst eingeschenkt hatte. Er grinste hämisch, als er sagte.
"Ich bin nun mal der Sohn meines Vaters", ein weiteres triumphales Grinsen, ein weiterer Zug von seiner Zigarette, und er fügte hinzu. "Ja, das trifft es auf den Punkt, ich bin nun mal Roberts Sohn!"
Marika war verunsichert. "Was willst du damit sagen, Kalle?" Sie sah ihn ernst an. Er überlegte kurz, ob er ihr etwas von den Dingen erzählen sollte, die sein Vater ihm unlängst gebeichtet hatte, doch dann besann er sich eines Besseren und erwiderte, den Rauch seiner Zigarette kalt ausblasend. "Frag ihn doch selbst!" Kalle glaubte, bereits über Marika triumphiert zu haben, doch als sie sagte, "Kalle, hör auf, deine Gefühle hinter dieser Arroganz zu verstecken und deinen Kummer im Alkohol zu ertränken!", fühlte er sich seiner Überlegenheit nicht mehr so sicher.

© Ingrid Hartung