Glück auf Zeit 26


Sie war ihm entglitten. Mit dem Kind hatte er auch sie verloren. Die Worte, die sie in dem tristen Krankenzimmer gewechselt hatten, waren ein deutlicher Beweis dafür. Kalle hatte ihr vorgeworfen, das Kind absichtlich verloren zu haben, und sie hatte ihndaraufhin fortgeschickt.
Er wußte, dass er sie nicht noch einmal in diesem gräßlichen Krankenhaus aufsuchen würde, zumal er dort jeder Zeit wieder ihren Eltern begegnen konnte, ein Umstand, den er unbedingt vermeiden wollte. Er hatte die Worte ihres Vaters, nachdem Carmen ihn angefleht hatte zu gehen. "Kalle, ich glaube, das war deutlich.", und dann "Ihr hättet uns über Carmens Zustand informieren sollen!" Kalle wußte, wie Recht er hatte. Die Welt hatte für Kalle alles bedeutet. Aber diese Welt waren eben nur er und Carmen gewesen.
Er Begriff immer erst, wie gut etwas gewesen war, wenn es nicht mehr gut war. Er lebte in der Gegenwart, ohne auch nur im Geringsten an die Zukunft zu denken. Er hatte das Gefühl, als ob es ihm den Boden unter den Füßen wegzog. Er war grausam zu Carmen gewesen, weil er selbst fassungslos, zornig und enttäuscht war. Er hoffte, dass es in seiner Macht stand, Carmen zurück zu gewinnen, aber er glaubte nicht daran. Er dachte an ihre rehbraunen Augen, aus denen unsägliches Leid und wilde Verzweiflung entgegenschlug. Doch in seiner Wut hatte er darüber hinweggesehen. Er hatte sie in ihrem Schmerz allein gelassen. Das konnte er sich nicht verzeihen. Er war ein Versager, er hatte sie nicht verdient. Er war es nicht wert, von ihr geliebt zu werden.

© Ingrid Hartung