Glück auf Zeit 23



Carmen hatte am Sonntag in der Bibliothek Archivdienst, und das war ihr auch ganz recht so. Damit war sie abgelenkt von all den Dingen, die sie sonst eigentlich beschäftigt hätten.
Carmen liebte die geheimnisvolle Atmosphäre der verlassenen Bücherei an einem Sonntag. Es schien ihr, als würden die Bücher anfangen, ihre Geschichten zu erzählen und außer ihr gab es niemanden, der zuhörte. Liebevoll Strich sie mit einem Microfasertuch über die verstaubten Buchrücken. Dennoch gelang es ihr nicht, der Wirklichkeit zu entfliehen. Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und weinte. Alles, was sich in ihr angestaut hatte, der endlose Schmerz, die grauenvolle Angst vor der Zukunft, die Tatsache, dass Kalle mit einem anderen Mädchen geschlafen hatte, brach mit einem Mal aus ihr heraus.
Nach einer halben Stunde hatte sie sich ein wenig beruhigt. Draußen würde es bereits duster, und sie musste das Licht einschalten.
Carmen stieg auf einen Hocker, um die obere Reihe der Bücher alphabetisch zu ordnen. Trotzdem erreichte sie nicht einmal die Unterkante des Regals. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und angelte nach einem Buch, das falsch eingeordnet war. Sie streckte ihre Hand nach oben, und plötzlich spürte sie einen Strom, der ihren ganzen Körper durchzuckte. Sie fühlte, wie etwas in ihr zerrann. Sie sah einige Tropfen Blut auf den Hocker sickern. Sie stieg behutsam herunter und ging langsam, sich den schmerzenden Unterleib haltend, in das gegenüberliegende Büro, wo sich ein Telefon befand.
Geistesgegenwärtig wählte sie die Nummer ihrer Eltern und war froh, als sich Petra meldete. "Petra, ich muss in ein Krankenhaus. Ich habe Blutungen.", presste sie mühsam hervor. "Um Gottes Willen, Carmen. Ich beeile mich. Ich schicke einen Krankenwagen zur Bücherei."
Carmen legte den Hörer auf. Sie sah noch Kalles leuchtende blaugraue Augen vor sich, ehe sie das Bewußtsein verlor und auf den Boden stürzte.

© Ingrid Hartung