Glück auf Zeit 9

Der Konter

Schnellen Schrittes begab er sich zur Bar. Andy, der Barkeeper schaute ihn mitleidsvoll an. "Heute schon wieder allein?", fragte er vorsichtig, denn es hatte Zeiten gegeben, in denen Kalle immer in Begleitung seiner kleinen brünetten Freundin erschienen war, die Andy aufgrund ihres natürlichen Wesens selbst so gern mochte.
"Wie du siehst", gab Kalle tonlos zurück. "Einen Whisky bitte, und einen für dich mit.", fuhr Kalle fort. Andy schenkte zwei Gläser ein. Sie stießen an und tranken sie in einem Atemzug leer. "Nochmal dasselbe", forderte Kalle, doch Andy demonstrierte eine abweisende Handbewegung. "Ich muss den Abend heute noch unversehrt durchstehen. Für mich bitte nicht!" Kalle kippte das zweite Glas, das ihm von Andy eingeschenkt wurde, ebenso rasch hinunter wie das erste. Er schob sein Glas erneut hin, als hätte Andy keine anderen Gäste. "Schenk bitte nach?" Da Kalle bisher immer anstandslos gezahlt hatte, kam er dessen Wunsch nach. Kalle schüttete auch den dritten Whisky ohne zu zögern in sich hinein. Als er gerade im Begriff war, Andy das Glas erneut hinzuschieben, fühlte er plötzlich eine Hand auf seiner, die das Glas umfasste.
Er sah erschrocken auf und blickte in die himmelblauen Augen eines blond gelockten Mädchens. "Hast du nichts Besseres zu tun, als dich mit Whisky zuzuschütten?", fragte sie verschmitzt. "Ich komm schon klar.", meinte er abweisend. Sie knuffte ihn in den Magen. "Wollen wir vielleicht tanzen?". Sie lächelte verführerisch. Er musterte sie eingehend. "Warum eigentlich nicht!" Die beiden gingen auf die Tanzfläche, und Kalle war froh, Andy entkommen zu sein, der sicher irgendwann peinliche Fragen gestellt hätte. Jeder im Club wusste, dass Carmen und er ein unzertrennliches Paar waren. Nur Kalle selbst kamen allmählich Zweifel.
Kalle zog seine Tanzpartnerin näher an sich."Wie heißt du?", fragte er sie. "Nicole, und du?" "Kalle.", antwortete er knapp. Sie prustete vor Lachen. "Was für ein komischer Name. Er passt überhaupt nicht zu dir." Er lächelte charmant. "Nun, der Name ist Schicksal. Und ich glaube, ich passe auch gar nicht in diese Welt." Er war erstaunt über seine Wort. "Das sehe ich anders.", meinte sie und blickte zu ihm auf. "Du bist groß, stark und unwahrscheinlich sexy. Kalle drückte sie noch fester an sich. Carmen hatte ihm noch nie gesagt, dass er 'sexy' war. Die beiden küssten sich, und er spürte seine Reaktion auf ihren strammen Körper.
"Lass uns gehen!", schlug er vor. Sie nickte. "Und wo wollen wir hin? Ich meine, ich im Internat mit drei anderen Mädchen in einem Zimmer. Da geht natürlich nichts." "Schon klar!", erwiderte Kalle belustigt. Plötzlich kam ihm eine Idee. Er fingerte in seiner Jackentasche herum und fand tatsächlich den Ring mit den beiden Schlüsseln, die ihm die Tür zur Gartenlaube seines Vaters öffnen würden, die er schon häufiger mit Carmen als Liebesnest genutzt hatte. Er klimperte mit den Schlüsseln. "Es ist zwar nicht sehr komfortabel, aber umso romantischer.", versprach er. "Wir müssen nur noch etwa einen Kilometer weit laufen." Sie lächelte ihn frivol an. "Du hast mich so auf die Folter gespannt, dass mir das überhaupt nichts ausmacht." Sie kuschelte sich an ihn, und er beschleunigte seinen Schritt in Richtung Gartenanlage.

© Ingrid Hartung